User Experience und Interaction Design für das Projekt MediQuit

Wie können Wechselwirkungen von langfristig verschriebenen medizinischen Präparaten überprüft werden? Welche Präparate können abgesetzt, ausgeschlichen oder ersetzt werden? Wie werden Patientinnen und Patienten in diesen Dialog eingebunden?

Institut für Allgemeinmedizin der Philipps Universität Marburg
Prof. Dr. med. Annika Viniol

UX Design: Christoph Luchs
Protyping: Dominik Trupp

Look & Feel der Softwareoberfläche in heller Anmutung
Look & Feel der Softwareoberfläche in heller Anmutung

Mit diesen Fragestellungen wurde Cogneus vom Institut für Allgemeinmedizin unter Prof. Dr. med. Annika Viniol beauftragt, die User Experience zu entwickeln und in einem zweiten Schritt einen Klick-Prototypen für eine Testreihe umzusetzen.

Ausgangspunkt ist die Polypharmazie: je nach Patientin oder Patient entwickeln die verschriebenen Präparate unerwünschte Wechselwirkungen. Auch wenn sie kurzfristig zur Linderung von Schmerzen oder zur Steigerung der Lebensqualität beitragen, führen sie in der verabreichten Kombination zu langfristigen gesundheitlichen Schäden.

Für die Auswahl, Bewertung und Gewichtung von Argumenten wählten mein Team und ich die Form der Schale mit einem genauen Ordnungsprinzip aus.

Durch die Differenzierung der Darreichungsform und Farbe soll eine hohe Wiedererkennung bei den Patientinnen und Patienten erreicht werden.

Begutachtet werden dann die Präparate im rechten Bereich. Hierzu können Datenbank-Auswertungen passend zu den Patienten-Daten Risiko-Faktoren ermitteln und darstellen.

Zentrale Metapher für Interaktion und Ordnung

Für die User Experience suchten wir zunächst nach der passenden Metapher und kombinierten bestehende Elemente: das Go-Spiel liefert die Ordnung der frei zu bewegenden Präparate, das Spiel Kalaha hingegen die Schalen-Form.

Per Touch-Gestik werden Objekte von einer Schale in die andere verschoben und ordnen sich dort nach dem Raster an.

Das Ordnungsprinzip ist dem Brettspiel Go entlehnt, die Sammlung in Schalen hingegen dem afrikanischen Spiel Kalaha, das z.B. in der herkömmlichen Form mit getrockneten Linsen gespielt wird.

Als Metapher und ersten Entwürfen leiteten wir die Umsetzung in Form von Widgets, Farben, Typografie, Formen und Anordnungen als GUI-Bibliothek ab und entwickelten im nächsten Schritt einen Klick-Prototypen auf HTML-Basis.  

Hierfür setzten wir das Rapid Prototyping mit Axure um. Dieser Protoyp wurde schrittweise mit dem Institut entwickelt und dann in einem internen Prozess mit Praxen der Allgemeinmedizin evaluiert.

Medizinisches Forschungsprojekt an der Philipps-Universität hilft bei der Reduzierung von Medikamenten

Wie können Wechselwirkungen von langfristig verschriebenen medizinischen Präparaten überprüft werden? Welche Präparate können abgesetzt, ausgeschlichen oder ersetzt werden? Wie werden Patientinnen und Patienten in diesen Dialog eingebunden?

Polypharmazie – so lautet das Thema des Teams des Fachbereichs Allgemeinmedizin der Philipps-Universität Marburg. Wenn Patienten in hohem Alter zunehmend Medikamente gegen Symptome oder chronische Leiden verschrieben bekommen, sammeln sich viele Präparate in der wöchentlichen Tablettenbox an.

Je mehr Wirkstoffe aufeinander treffen, um so gefährlicher wird es für die Patientinnen und Patienten. So führen manche Wirkstoffe bei jahrelanger Einnahme zu Organschäden oder haben nachhaltigen Einfluss auf Kreislauf und Stoffwechsel.

Aus diesem Grund wurde eine Wissensdatenbank entwickelt, die es erlaubt, Wechselwirkungen von Medikamenten nach den Gegebenheiten des Patienten – Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen – in Beziehung zu setzen: „MediQuit“. Der Name ist Programm. Zu viele Medikamente sollen nach Möglichkeit reduziert werden. So die Theorie.

Doch wie sieht die Praxis aus? Konkret bekommen Patientinnen und Patienten Medikamente verschrieben und nehmen diese, wie empfohlen. Allgemeinmediziner und Fachärzte handeln selten in Abstimmung. Neben der Ansammlung der Medikamente kommen auch Gewohnheiten ins Spiel – manche Medikamente verhelfen den Patienten zu mehr Lebensqualität. Das bedeutet auch Vertrauen und Gewohnheit.

Gesucht: ein User Interface für die Waage.

Wie können nun Patientin und Arzt miteinander herausfinden, welches Medikament überflüssig wäre? Hier wendete sich das Team der Philipps-Universität an Cogneus Design. In einem ersten Workshop wurde die Thematik spielerisch erarbeitet – mithilfe eines Use Cases und bunten Smarties gelang es, die hoch wissenschaftliche Thematik auf konkrete Dinge hinzuführen. So bilden konkrete Objekte eine Spielfläche und können in Beziehung gesetzt werden. Gut oder schlecht? Für die Medizinerin oder den Arzt mag dies ganz anders aussehen als für Patient und Patientin.

Um also diese Argumente gegeneinander auszuloten und abzuwägen, wurde die Metapher der Waage gewählt. Doch nach welchen Regeln wird gespielt? Hierzu gerät das Medikament in den Mittelpunkt, genauer gesagt, auf die Waagschale. Das Spielfeld ist aufgeteilt in ein rotes und in ein grünes Feld. Rot steht natürlich für die Nachteile des Medikaments, Grün für die Vorteile. Assoziationen zu Spielen wie Kalaha oder Backgammon sind durchaus beabsichtigt!

Um nun die Argumente auf die Spielfläche zu bewegen, können sowohl Patient als auch Arzt die Argumente aus einer Schublade ziehen. Diese sind grob unterteilt in Alltag, Organe und weitere medizinische Argumente. Der Alltag kann positiv wie negativ beeinflusst werden. Daher wird unterschieden in z.B. Haushalt, Freizeit oder Gedächtnis. Wechsel- und Langzeitwirkungen sowie Magen, Darm, Herz, Leber etc. stehen aus medizinsicher Sicht Pate.

Drag-and-drop: Argumente werden auf der Spielfläche hin und her bewegt

Per Drag-and-drop werden diese Argumente auf die Spielfläche gezogen. Unterteilungen helfen, um den negativen oder positiven Einfluss genauer zu bewerten. So wird ein Argument auch gleich gewichtet – nach einem geringen, normalen oder hohen Einfluss. Je nach Position schlägt der Zeiger unterhalb des Medikaments in die Richtung „beibehalten“ oder „ändern“ aus. Nun kommen weitere Argumente ins Spiel. Es ergibt sich ein Gesamtbild, welches Argument für oder gegen das Medikament steht.

Natürlich geschieht dies nicht wortlos – Arzt und Patient unterhalten sich dabei. So erhält der Arzt auch einen Einblick in das persönliche Umfeld des Patienten. Der Patient hingegen kann sich in Ruhe dabei anhören, was aus medizinischer Sicht für oder gegen das alltägliche Medikament spricht.

Zum Ende liegt ein Abbild des Gesprächs auf der Bedienoberfläche – alle Argumente sind verteilt und abgewogen. Das User Interface erlaubt es somit, dass das Gespräch immer wieder an den konkreten Argumenten festgemacht werden kann. So wird das Gespräch auf spielerischer Weise dokumentiert und der Ausgang ist für alle Beteiligten sichtbar.

User Interface Design für medizinische Anwendungen

Cogneus Design gestaltete das User Interface Design für die Web-Anwendung MediQuit mittels interaktivem Prototyping. Das Ergebnis ist eine Anwendung in HTM5, die auf jedem Browser ausführbar ist – natürlich auch auf Tablets, wie das Design konkret vorsieht. Klar gestaltete Piktogramme unterscheiden sich grafisch so voneinander, dass sie schnell erfasst werden. Zusätzliche Beschriftungen – auch frei wählbare – runden die Orientierung im User Interface ab.

Cogneus konnte in diesem Projekt die Erfahrungen aus über zehn Jahren Interface Design einbringen. Vom grafischen Interface der Bedienoberfläche, den geeigneten Semantiken bis zu der Ausgestaltung der zahlreichen Piktogramme reicht die Bandbreite im Design der Anwendung.

Im nächsten Schritt der wissenschaftlichen Untersuchung wird die Web-Anwendung im konkreten Patienten-Arzt-Gespräch erprobt. Die Praxis wird zeigen, ob sich das spielerische Bedienkonzept bewährt, um langfristig an die Wissensdatenbank angeschlossen zu werden.